Zentralasien

Russland – Reisebeobachtungen zu Politik und Gesellschaft

Bevor wir von einigen Stationen unserer Rückreise durch Russland berichten,  sollen hier einige grundsätzliche Beobachtungen vorgestellt werden. Wir waren in Zentral-, und Westrussland sowie in einem kleinen Teil Sibiriens sowie auf dem Hinweg noch in Südrussland zwischen Wolgograd und Astrachan. Obwohl wir insgesamt 6000 km (von insgesamt 22.500 km unserer Reise) in Russland gefahren sind, ist es nur ein kleiner Ausschnitt dieses riesigen Landes.
Wir können also keine allgemeinen, sondern nur sehr individuelle Aussagen treffen, die auf unserer Wahrnehmung und unserem Erleben fußen.
Die erste und wesentliche Beobachtung ist, dass das Narrativ vom begrenzten Krieg („Sonderoperation“) relativ gut zu funktionieren scheint. Das Leben unterwegs und in den Städten wirkt von außen betrachtet völlig normal,  die Menschen arbeiten, gehen essen und flanieren, besuchen Kulturveranstaltungen. Der inländische Tourismus floriert, wie haben z.T. keine oder (ganz kapitalistisch) nur deutlich verteuerte Hotelzimmer in den Städten wie Kasan, Ufa oder Nischni Novgorod bekommen. Aus der Beobachtungsperspektive brummt die Wirtschaft – es wird unfassbar viel und mit sehr hohem Arbeitskräfteeinsatz gebaut, v.a. im Sektor Infrastruktur und im Feld der Kulturpflege (am meisten in der Kirchenrestaurierung). Auch die Konsumnachfrage scheint sehr hoch, wenn man sieht wie voll die Einkaufsstraßen und – zentren sind. Chinesische Autos füllen die Lücke, die durch den Abzug europäischer und US-amerikanischer Konzerne entstanden ist. Die Grundatmosphäre wirkt insofern mit Blick auf eine sozio-ökonomische Perspektive durchaus dynamisch.
Soweit wir das mit unseren begrenzten Sprachkenntnissen wahrnehmen konnten, ist die Alltagskultur von De-Politisierung unter den Menschen geprägt. Man spricht im öffentlichen Raum nicht über politische Fragen. Die Menschen wünschen sich die Normailtät geradzu herbei. Zum Beispiel konnten die Leute nicht verstehen, warum wir nicht mit dem in Russland sehr weit verbreiteten digitalen Möglichkeiten bezahlen. Wenn wir sagten, dass das nicht ginge, weil Visa und Co wegen der Sanktionen nicht funktionieren, begegnete man uns mit verständnislosen Blicken. Der Krieg und das Soldat-Sein wird als Normalität dargestellt, für die auf Plakaten im öffentlich Raum geworben wird: Komm zur russischen Armee und Du verdienst 203.000 Rubel im Monat (gut 2000 € im Monat und damit deutlich mehr als der Durchschnittsverdienst). Seit neuester Zeit gibt es eine doppelt so hohe „Antrittsprämie“, die für die Anschaffung eines Kleinwagens reicht. Die russische Regierung versucht also eine obligatorische Mobilisierung zu vermeiden und setzt zumindest zur Zeit auf Anreize durch Geld und die Normalitätskarte.  Schaltet man allerdings das TV ein, sieht das anders aus, dann gibt es forsche Kriegspropaganda aus russischer Sicht, da braucht es wenig Sprachkenntnisse, um das zu begreifen.
Russland wirkt im direkten Blick viel stabiler und lebendiger als es die deutsche/europäische Berichterstattung suggeriert. Es stellt sich nicht zuletzt deshalb die Frage, wie das Ganze funtioniert. Thesenartig formuliert könnte das auf einer durchaus klugen Machtpolitik basieren, die sich auf drei Säulen stützt. Da ist zunächst die nationale Säule, die gerade in Kriegszeiten zum (agressiven) Nationalismus erwächst. In manchen Orten strotz es nur so vor nationalen russischen Symbolen.  Die zweite Säule ist die Sowjetkarte, also der positive Bezug auf die Sowjetunion. Allerdings nicht wie viele in Deutschland meinen, im Sinne einer imperialistischen Perspektive, sondern im Sinne einer wirtschaftlich und sozial gerechten, multiethnischen Gesellschaft, die regionale Eigenheiten respektiert. Das zielt v.a. auf ältere Menschen und die Anhänger der russischen KP,  die durchaus ein wichtiger politischer Faktor und tendenziell eher nationalbolschewistisch orientiert ist. Es geht dabei allerdings nur zum Teil um echte materielle Politik (vielleicht am ehesten noch in der Sozialpolitik), sondern mehr um die Wahrung sowjetischer Symbole, die eine Identifikation vieler Menschen ermöglicht. In jeder, wirklich jeder Stadt die wir besucht haben, findet sich an prominenter Stelle eine Lenin-Skulptur und eine Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, wobei die Denkmalflächen überall gepflegt und geschmückt sind. Die dritte Säule ist die Religion, konkret die orthodoxe Kirche, die ein sehr bedeutender Faktor zu sein scheint. Die Kirchen werden (oder sind) nicht nur prunkvoll restauriert. Die Menschen gehen auch dahin und üben aktiv ihren Glauben aus, den sie mit ihrem Geld unterstützen, denn die orthodoxe Kirche hat keine Steuereinnahmen. Kirche und Staat sind zwar eigene Sphären, aber in Sachen Nation und Krieg besteht ein festes Bündnis zwischen den beiden Polen.
Natürlich kann man diese Gedanken bei einer Transitreise nicht ausblenden, zumal immer auch ein mulmiges Gefühl mitschwingt aus einem „unfriendly country“ zu kommen. Dennoch haben wir versucht, etwas von diesem Land, seiner Geographie, seiner Kultur, seines Lebens mitzunehmen und sind nicht nur durchgerast. Wir haben uns einige Städte angeschaut, von denen wir Euch in den nächsten Tagen ein bisschen berichten möchten.

Kommentar

  • Inge und Wilfrid

    Gratulation! Ein Bericht mit Herz und den kritischen Methoden der Vernunft. Wir alle, besonders die ältere Generation, sind Kinder und Erben des „Kalten Krieges“, dessen Gedankenwelt bis heute auf uns alle einen Schatten wirft, und da ist kaum Objektivität zu erwarten. Ihr habt Euch beide darum bemüht und hinterfragt, mit all den Schwierigkeiten und der gebotenen Vorsicht.
    Euer Bericht bringt für uns viel Licht und Freude über ein Land, dass so nah und oft so fern ist. Wir warten gespannt auf Neues!!!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert