Zentralasien

Wirtschaft und politisches System in Zentralasien

Wir haben bis auf Turkmenistan alle Stan-Staaten mindestens 1 Monat bereist, also Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan und uns im Vorwege und während der Reise zu den einzelnen Ländern eingelesen. Es reicht also für einen guten ersten Eindruck, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Alle diese Länder sind bekanntermaßen ehemalige Teilrepubliken der Sowjetunion, die nach dem Zerfall dieses riesigen Staatengebildes in die nationale Unabhängigkeit überführt wurden. Dabei haben alle neuen Staaten mehr oder weniger ein Problem sowohl mit ihrer Identität als Nation als auch mit ihrer Staatlichkeit, denn keines dieser Länder verfügt über eine ernsthafte Geschichte als eigenständiger Nationalstaat. Darüber kann auch nicht das einzelne nationalistisch-patriotische Getöse hinwegtäuschen, das zumeist eher propagandistischen Ideologemen als realen Verhältnissen folgt.

Es handelt sich also um suchende, sich neu formierende Länder und zwar in jeder Hinsicht, es gilt für die kulturelle Identität ebenso wie für die Ökonomie und die politische Verfasstheit. Gemeinsame Basis ist die von der Sowjetunion übernommene Infrastruktur, die einerseits einen gewissen funktionsfähigen Kapitalstock hervorgebracht hat, andererseits die Länder in eine Arbeitsteilung innerhalb der Sowjetunion platziert hatte, die heute im postsowjetischen Raum kaum mehr existiert. So waren beispielsweise das Ferganatal in Usbekistan und das in der Nähe liegende kirgisische Osch einst Zentren der sowjetischen Textilindustrie – eine Tradition, die erst in diesem Jahrzehnt, vor allem in Usbekistan, wiederbelebt wird.

Alle Stan-Staaten arbeiten mit Nachdruck an ihrer eigenen Infrastruktur, d.h. vor allem Straßenbau, Logistik, aber auch Stromnetze und Telekommunikation. Da ist wirklich die Dynamik zu spüren und zu sehen, vor allem durch chinesische Bauträger. Ansonsten haben die Länder durchaus unterschiedlich Strategien. Kasachstans heutige Wirtschaftsstruktur basiert in starkem Maße auf der Ausbeutung fossiler Rohstoffe, vor allem Öl und Gas. In einzelnen Bereichen wird eine Intensivierung der Wertschöpfung in Kasachstan etwa durch Stahlproduktion angestrebt, aber allein durch den Rohstoffreichtum hat das Land das höchste Pro-Kopfeinkommen der Region. Usbekistan baut neben einem starken Tourismus auf eine Re-Industrialisierung u.a. im Bereich Fahrzeugbau verbunden mit einer Offensive in Richtung Bildung und Qualifizierung. Der Ausbau des Bildungssystems verbunden mit dem Versprechen auf größere Teilhabe-Chancen ist eine zentrale Botschaft der Regierung von Präsident Shavkat Mirziyoyev. In Tadschikistan, dem ärmsten der zentralasiatischen Staaten, ist neben der Landwirtschaft (u.a. Baumwolle) und dem Ausbau der Infrastruktur in starker Abhängigkeit zu China keine wirkliche Strategie zu erkennen. Das liegt wohl nicht zuletzt an der politischen Führung, die nicht nur wie auch in allen anderen Staaten Zentralasiens streng autoritär geprägt ist, sondern auch durch einen extremen Personenkult um Präsident Emomalij Rahmon gekennzeichnet ist. In jedem noch so kleinen Ort des Landes hängen aufdringliche Plakate mit seinem Konterfei, ein nicht unbeträchtlicher Teil des Staatshaushaltes wandert statt etwa in Bildung in Prestigeprojekte des Präsidenten. In Kirgisistan leben die Menschen von der Landwirtschaft (u.a. nomadisch geprägte Viehzucht), einem aus der Sowjetunion stammenden industriellen Sektor (etwa Flachglasherstellung oder die Textilindustie), der Ausbeutung von Mineralien, hier vor allem Gold, Quecksilber und Uran. Im Dienstleistungsbereich hat der Tourismus eine große Bedeutung.

In allen Ländern Zentralasiens spielen die so genannten Remittances, also die Rücküberweisung der im Ausland arbeitenden Bevölkerungsteile, eine bedeutende Rolle für das jeweilige Bruttoinlandsprodukt. Die Arbeitsverhältnisse der Menschen sind von hoher Flexibilität und niedriger sozialer Absicherung geprägt. So arbeitet etwa ein Automechaniker zumeist auf eigene Rechnung in einer Werkstatt und wird nur für den jeweilig erledigten Auftrag bezahlt. Eine Näherin arbeitet – wenn nicht auf Akkord in der Fabrik – mit kreditfinanzierter Nähmaschine von zu Hause ‚on demand‘. Erstaunlich ist, dass bei diesen geringen Löhnen, den in der Regel sehr prekären Arbeitsverhältnissen und den autoritären politischen Verhältnissen insgesamt betrachtet eine recht positive Grundstimmung der Bevölkerung in allen zentralasiatischen Staaten vorherrscht. Überraschend ist auch, dass trotz verbreiteter Armut eine niedrige Kleinkriminalität festzustellen, so dass wir uns als Reisende immer sehr sicher gefühlt haben.

Kommentar

  • Julia

    Vielen Dank für diese Zusammenfassung am Ende Eurer Reise! Ich konnte durch Euren Blog, die Berichte, die Bilder und Hintergrundinformationen sehr viel mitnehmen und es hat mir sehr viel Spaß gemacht, ihn zu lesen 😊 Mich würde jetzt am Ende noch interessieren, wie es Euch geht nach dieser Reise: Was war besonders beeindruckend? Was war enttäuschend oder ermutigend? Was hat Euch zum Nachdenken gebracht oder bringt Euch jetzt im Nachhinein zum Nachdenken? Vielleicht lasst Ihr Euch für Eure „Follower“ ja noch zu einem kleinen Rückblick verleiten 😉 Und auch, bezogen auf diesen letzten Eintrag: Wie kommt Ihr darauf, dass in der Bevölkerung eine „recht positive Grundstimmung“ herrscht. Was hat Euch diesen Eindruck gegeben?
    Viele liebe Grüße, Julia

    • Billie und Ralf

      Wir haben die Stimmung natürlich nicht „empirisch“ erfasst, es war ja keine Forschungsreise. Nennen wir es aufmerksame Beobachtungen in vielen alltäglichen Begegnungen überwiegend in nicht-touristischen Zonen. Natürlich spürt man auch Unzufriedenheit, zumeist im Hinblick auf die Privilegien und die Prasserei der Führungsschicht gerade in Kirgisistan und auch in Tadschikistan. Aber das grundsätzliche Lebensgefühl erscheint positiv und eher zugewandt zu sein. Vielleicht auch weil die Ansprüche an das Leben und den Lebensstandard eher basal sind. Zentrale Bedeutung haben Familie, Kinder und Nachbarn, Dinge zusammen zu erleben, wie ein schönes Picknick unter freien Himmel. Der überdrüssige Konsum und individualsierende Marktbeziehungen fressen sich natürlich auch in die zentralasiatschen Gesellschaften hinein, aber die Traditionen schaffen scheinbar eine gewisse Resillenz.
      Grundsätzlich haben die zentralasiatischen Staaten die Dynamik von Schwellenländern, nicht zuletzt durch die geographische Stellung in der sich neu herausbildenden Weltordnung. Das heißt wachsende politische Bedeutung, ein relativ hohes Wirtschaftswachstum und damit verbunden steigende Einkommen der Haushalte. Diese Dynamik überdeckt die riesige soziale Ungleichheit, ähnlich wie in den 1950er Jahren im deutschen „Wirtschaftswunder“. Aber grundsätzlich geht es eben aufwärts und das ist exakt die gegenteilige Stimmung zu Deutschland, wo überall die Angst vor dem Abstieg zu spüren ist, verbunden mit Miesepeterei und der diskriminierenden Abwertung vermeintlich Verantwortlicher (Geflüchtete, Sozialleistungsempfänger, EU…). Allerdings: Die Lage in den zentralasiatischen Staaten ist fragil. Wenn der in den letzten Jahren gewachsene Lebensstandard in Frage gestellt ist, etwa durch die Erhöhung der Preise für wichtige Alltagsgüter, dann explodiert die Situation schnell. So z.B.im Januar 2022 in Kasachstan, wo es nach Gaspreiserhöhungen zu militanten und bewaffneten Auseinandersetzungen kam, mit offiziell 164 Toten. Auch die kriegerischen Grenzkonflikte zwischen den zentralaiatischen Staaten sind zumeist ethnisch überdeckte Verteilungskämpfe.

      • Inge und Wilfrid

        Als Nachzügler nur kurz eine Anmerkung. Wie schön die freundlichen Worte und Fragen von Julia zu lesen. Es muss Euch, Billie und Ralf, beglückwünschen so interessierte Leser zu haben.
        Eure Antwort an Julia und uns ist wieder einmal umfassend als wirklich interessierte Beobachter, die eine Reise mit Herz und Verstand machen.
        Aber nun ist es auch schön, dass Ihr wieder zuhause seid.

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